Ehen und Familien zwischen Hoffen und Bangen

Marc Spescha

Jurist und Lehrbeauftragter für Migrationsrecht an der Universität Freiburg i.Ue.

Dass «die Bewegung der ganzen Welt (…) auf die Paarung hinaus(läuft)» erschien schon Michel de Montaigneim 16. Jahrhundert als Faktum. Während «Paarung» bei ihm allerdings nicht gleichbedeutend war mit Verehelichung, mündet das Paarungsbedürfnis auch bald 200 Jahre nach dem historischen Aufstieg der Liebesehe als Ideal vielfach in die so enttäuschungsgesättigte wie enttäuschungsresistente Ehe. In Zeiten der Globalisierung, die auch den Heiratsmarkt erfasst hat, und angesichts grenzüberschreitender Migrationen erfährt die Ehe bei aller Krisenhaftigkeit aufgrund ihrer migrationsrechtlichen Wirkungen einen Attraktivitätszuwachs.

Migrationsrechtliche Motive liegen vielen Eheschliessungen zugrunde, und die Sorge der migrationsrechtlichen Konsequenzen eines vorzeitigen Scheiterns der Ehe ist mancher Immigrantin und manchem Immigranten eine ständige Begleiterin. Insofern lässt sich in Bezug auf binationale Ehen und Ehen unter Ausländern mit einem nachgezogenen Partner von grenzüberschreitenden Spannungsverhältnissen sprechen. Dabei zeigt sich, dass solche Verhältnisse heute zwar «normal» sind, vielfach aber trotzdem unter Missbrauchsverdacht stehen, und die Betroffenen in der Gestaltungsfreiheit ihres Ehe- und Familienlebens eingeschränkt sind. Konkrete Fallbeispiele zeigen, dass der Grat zwischen zulässigen behördlichen Auskunftsansprüchen und persönlichkeitsverletzenden Übergriffen mitunter schmal und die Justiziabilität des Ehewillens fraglich ist. Gleichwohl urteilen Migrationsbehörden und Gerichte im Namen der Missbrauchsbekämpfung regelmässig über die Qualität von Ehen und entscheiden gestützt darauf vor allem über die Verlängerung des Aufenthalts der ehebedingt nachgezogenen Partner. Zentraler (objektiver) Anknüpfungspunkt für die Wahrung der Aufenthaltsperspektive ist eine mindestens dreijährige Dauer der Ehegemeinschaft in der Schweiz, wobei für die Bestimmung ihrer Dauer im Regelfall der Bestand der Haushaltsgemeinschaft massgeblich ist. Migrationsrecht macht mitunter erfinderisch, sensibilisiert jedenfalls für praktische Handlungsstrategien. Diesen Strategien ist unter Umständen das internationale Recht gewogen, insbesondere die dynamische Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Privat- und Familienleben. Sie zeigt, dass Menschenrechte nicht leere Versprechen sein müssen, sondern in grenzüberschreitenden Beziehungen zunehmend zu Lasten einwanderungspolitischer «Souveränitätsansprüche» wirksam werden können.

Binationale Ehen als Normalfall – und trotzdem unter Verdacht

Gegen 50 Prozent der Ehen in der Schweiz und rund 75 Prozent der Ehen in der Stadt Zürich werden binational oder zwischen ausländischen Staatsangehörigen geschlossen, vielfach mit migrationsrechtlichen Wirkungen. Im Jahre 2012 wanderten 45 369 Personen im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz ein, was rund 31 Prozent der gesamten, auf Dauer gerichteten Einwanderung entspricht. Davon wurden 28 526 Personen gestützt auf das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) nachgezogen und 16 843 gestützt auf das schweizerische Ausländergesetz (AuG). Die Nachzüge freizügigkeitsberechtigter Personen beliefen sich je zur Hälfte, d.h. je rund 14 000 Personen auf Ehepartner (einschliesslich gleichgeschlechtliche Partner) bzw. Kinder. Die auf das AuG gestützten Nachzüge beliefen sich auf ca. 13 000 Ehepartner und auf rund 3500 Kinder. Rund 27 000 Personen pro Jahr bzw. knapp 20 Prozent der auf Dauer gerichteten Einwanderung verdanken ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz folglich der Eheschliessung. Ihr spezifischer migration rechtlicher Mehrwert ist unmittelbar die Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit und mittelfristig eine Zukunftsperspektive in der Schweiz. Drittstaatsangehörige, also Nicht-EU-Bürger, können praktisch nur über den Familiennachzug in die Schweiz gelangen. Das Kontingent für Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Drittstaaten liegt für auf Dauer angelegte Aufenthalte bei 3500 pro Jahr, und der Asylweg ist keine attraktive Alternative. So bleibt für Menschen aus der ganzen Welt ausserhalb Europas praktisch nur der Familiennachzug als quantitativ relevanter, relativ risikoarmer Zugangsweg in die Schweiz. Daher richtet sich der kritische Blick der Migrationsbehörden auf diese (missbrauchsverdächtige) Form der Immigration. Mit dem Erlass des Ausländergesetzes wurde gleichzeitig Art. 97a ins Zivilgesetzbuch (ZGB) eingefügt, welches die Zivilstandsbeamtin verpflichtet, auf Gesuche von Ehewilligen nicht einzutreten, «wenn die Braut oder der Bräutigam offensichtlich keine Lebensgemeinschaft begründen, sondern die Bestimmungen über Zulassung und Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländer umgehen will». Gleichentags mit der Verabschiedung dieser Bestimmung im Parlament am 16. Dezember 2005 hatte Nationalrat Toni Brunner mit der parlamentarischen Initiative «Scheinehen unterbinden» Anstoss zur Ergänzung des ZGB gegeben. Gemäss Art. 98 Abs. 4 ZGB, der am 1.1.2011 in Kraft gesetzt wurde, müssen «Verlobte, die nicht Schweizerbürgerinnen oder Schweizerbürger sind, […] während des Vorbereitungsverfahrens ihren rechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz nachweisen», und nach Art. 99 Abs. 4 ZGB teilt das Zivilstandsamt der Migrationsbehörde die Identität von Ehewilligen mit, die ihren rechtmässigen Aufenthalt nicht nachgewiesen haben. Es liegt auf der Hand, dass damit illegal anwesende Personen zwecks Ausschaffung oder für allfällige Zwangsmassnahmen dem Migrationsamt gemeldet werden sollen. Zwar hat das Bundesgericht in Berücksichtigung des Rechts auf Ehe das Recht auf Eheschliessung in der Schweiz grundsätzlich auch Sans-Papiers und (abgewiesenen) Asylsuchenden zuerkannt. Trotzdem behandelt das duale System der Immigration den Familiennachzug im Geltungsbereich des FZA und des AuG nicht in gleicher Weise.

Binationale Ehen im Geltungsbereich des Personenfreizügigkeitsabkommens

Das Freizügigkeitsrecht mag als neoliberales Wirtschaftsprojekt zur optimalen Gewinnung von Arbeitskräften im Dienste des Kapitals konzipiert worden sein. Gleichwohl ist das Familienleben im Freizügigkeitsrecht ein hervorragendes Rechtsgut, das mit weitreichenden Rechten einhergeht. Freizügigkeit meint zwar keine gesetzlich intendierte Libertinage. Im Geltungsbereich des FZA ist das «living apart together» aber eine legitime Form, das Eheleben zu gestalten, ohne sogleich migrationsrechtliche Nachteile befürchten zu müssen. Auch favorisiert das FZA in Art. 3 Abs. 2 Anhang I grossfamiliale Verbände: Kinder und Stiefkinder des EU-Bürgers können bis zum 21. Altersjahr nachgezogen werden und sogar darüber hinaus, wenn ihnen Unterhalt gewährt wird. Nachzugsberechtigt sind unter dieser Voraussetzung auch Verwandte in aufsteigender Linie. Begünstigt zu behandeln sind ferner Gesuche von Personen, mit denen eine Hausgemeinschaft bestand oder denen Unterhalt gewährt wurde. Zu denken ist etwa an Seitenverwandte oder Konkubinatspartner.

Binationale Ehen im Geltungsbereich des Ausländergesetzes

Schweizer in binationalen Ehen können gemäss Art. 42 Abs. 1 AuG ihre Ehepartnerinnen sowie eigene ausländische Kinder bis zum 18. Altersjahr nachziehen. Nicht erfasst sind volljährigeKinder, Stiefkinder des Schweizers und Verwandte in aufsteigender Linie. Einen analog zum Familiennachzug im Geltungsbereich des FZA erweiterten Personenkreis können Schweizer nach Art. 42 Abs. 2 AuG nur dann nachziehen, wenn diese Angehörigen in einem FZA-Vertragsstaat einen rechtmässigen Aufenthalt haben. Anders als im FZA-Bereich und gemäss Art. 42 Abs. 2 AuG gilt für Nachzüge von Familienangehörigen direkt aus Drittstaaten das Zusammenwohnen als Bedingung des Nachzugsrechts. Ausnahmen hiervon sind nur aus wichtigen Gründen im Sinne von Art. 49 AuG möglich, namentlich bei beruflich bedingtem Getrenntleben oder bei (ehe)krisenbedingter vorübergehender Aufhebung der Haushaltsgemeinschaft. Hinsichtlich der Gestaltung des Ehelebens sind Eheleute in solchen binationalen Konstellationen mithin eingeschränkt und nicht zur (freien) Wahl des Ehemodells des «living apart together» berechtigt. Auf das FZA können sich Schweizer nur in einem anderen FZA-Staat berufen, da ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorausgesetzt ist. Ein solcher liegt auch dann vor, wenn ein Schweizer mit seinen Familienangehörigen aus einem FZAStaat in die Schweiz zurückkehrt oder in einen solchen weiterzieht. Diesfalls bleiben die von ihm im bisherigen FZAAufenthaltsstaat erworbenen Freizügigkeitsrechte erhalten. Analoge Voraussetzungen wie für Schweizer Bürger in binationalen Konstellationen mit Angehörigen, die in Drittstaaten wohnen, gelten für Ehen von Niedergelassenen (Art. 43 AuG). Bei Ausländern, die nur eine Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung haben, besteht dagegen kein Rechtsanspruch auf Familiennachzug. Der Entscheid liegt hier im behördlichen Ermessen, das freilich pflichtgemäss auszuüben ist. Als explizites Nachzugshindernis können sich in diesen Fällen insbesondere fehlende finanzielle Mittel erweisen. Das Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit gemäss Art. 44 lit. c bzw. Art. 45 lit. c AuG wird in der Praxis dahingehend ausgelegt, dass hinreichende finanzielle Mittel nachgewiesen werden müssen, so dass kein Sozialhilfeanspruch geltend gemacht werden könnte. Aufgrund dieses Kriteriums sind Ehen auch schon am Fehlen finanzieller Mittel auseinandergegangen, die Liebe an der Ökonomie gescheitert, wie dies auch bei Konstellationen ohne Migrationskontext beobachtet werden kann.

Paar- und Familienleben im Visier der Migrationsbehörden

Auch wenn die Ehe geschlossen und von der Migrationsbehörde das Aufenthaltsrecht des (nachgezogenen) Partners bewilligt wurde, steht sie unter besonderem Erfolgsdruck. Zwar ist gemäss dem Grundsatz «in dubio pro matrimonio» Ehewilligen auch bei Indizien für eine sogenannte Umgehungsehe der Tatbeweis zu ermöglichen, dass die Eheschliessung grundsätzlich eine Lebensgemeinschaft bezweckt. Ausserdem hat das Bundesgericht schon vor langer Zeit klargestellt, dass ein migrationsrechtliches Heiratsmotiv die Ehe nicht zur «Scheinehe» macht. Gleichwohl bleibt das «Wagnis Ehe» unter behördlicherBeobachtung. Es wird zuweilen kritisch beäugt, ob das Mischverhältnis zwischen Gefühl und Kalkül stimmig sei. Partner und Partnerinnen im Geltungsbereich des AuG haben jährlich über den Stand der Dinge zu berichten, namentlich ob sie noch in Haushaltsgemeinschaft mit ihrem Partner leben. Anlass zur Sorge gibt bisweilen die Dreijahresregel von Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG. Gemäss dieser besteht ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn «die Ehegemeinschaft mindestens drei Jahre bestanden hat und eine erfolgreiche Integration besteht». Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist Ehegemeinschaft gleichbedeutend mit in der Schweiz gelebter Haushaltsgemeinschaft und gilt zudem absolut. Demnach besteht die gesetzliche Vermutung, dass der Ehewille mit der (nicht bloss vorübergehenden) Aufhebung der Haushaltsgemeinschaft erloschen sei. Dies führt – vorbehältlich wichtiger Gründe im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG – zum Verlust des Aufenthaltsrechts. Wo die Dreijahresfrist überstanden ist, wird die Bewilligungsverlängerung im Weiteren von einer erfolgreichen Integration abhängig gemacht, an die allerdings nicht überhöhte Anforderungen gestellt werden dürfen. Zentrales objektives Kriterium der Aufenthaltsperspektive nachgezogener Ehepartner bildet die Dauer der Haushaltsgemeinschaft. Trotz dieses objektiven Anknüpfungspunktes sehen sich die Behörden nicht selten gleichwohl veranlasst, sich eingehend mit der Qualität der ehelichen Bindung zu befassen. Bei der inhaltlichen Bestimmung der «tatsächlich gelebten Ehegemeinschaft» treten dabei erhebliche Unschärfen zu Tage.

An der Grenze des Justiziablen

Bei der Revision des Scheidungsrechts hatte der Gesetzgeber den Richter weitgehend aus der Intimsphäre der Eheleute zurückgezogen und damit anerkannt, dass Gerichte weder qualifiziert sind, in ehelichen Beziehungen über Schuld zu richten, noch berechtigt, Intimitäten auszuleuchten. Entsprechende Fragen wurden damit als kaum justiziabel beurteilt. Migrationsbehörden haben sich seither dieser Aufgabe angenommen. Sie agieren dabei gelegentlich eigenmächtig und übereifrig, teilweise gucken sie aber auch auf gesetzgeberische Veranlassung hin durchs Schlüsselloch und leuchten gleichsam in Ehebetten hinein. Jedenfalls werweissen sie regelmässig über die Qualität ehelicher Bindungen. Beck/Beck-Gernsheim veranlassten entsprechende Beobachtungen zur spitzen Bemerkung, dass Ehen zwar im Himmel geschlossen werden mögen, die binationalen aber «durch die Vorhölle der Bürokratie» müssten. Mit der Anknüpfung einer tatsächlich gelebten Ehe an das objektive Kriterium der Haushaltsgemeinschaft wollte der Gesetzgeber Umgehungsehen verhindern. Die Massgeblichkeit der Dauer der Haushaltsgemeinschaft trifft indessen unter Umständen ausgerechnet Ehewillige, die dem «unordentlichen Gefühl» der Liebe (Richard David Precht) zu sehr erlegen sind. Sie werden dabei in Konflikte getrieben, die schliesslich zur (vorzeitigen) Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes nötigen.

Behördliche Verirrungen in der Intimsphäre

Auch dem Bundesgericht ist nicht verborgen geblieben, dass mit langjährigen Partnerschaften eine zunehmende sexuelle Abstinenz einhergehen kann: So sei es «doch notorisch, dass auch in einer Ehe die sexuelle Anziehung abnehmen kann». Dessen ungeachtet will etwa ein kantonales Migrationsamt über zehn Jahre später und trotz einschlägigem Erkenntnisgewinn den Bestand des Ehewillens an der sexuellen Aktivität messen. In einem Brief des Amtes vom 5. April 2013 an den nachgezogenen indischen Ehemann heisst es: «Sie sagten uns u.a., dass Sie mit Ihrer Ehefrau bis zur Trennung eine sexuelle Beziehung unterhielten und auch Geschlechtsverkehr mit ihr hatten. Ihre Ehefrau hat uns anlässlich der mit ihr durchgeführten Befragung u.a. mitgeteilt, dass sie nie mit Ihnen Geschlechtsverkehr gehabt habe und Sie Probleme mit Ihrer Vorhaut hätten. Zur Klärung der Frage, ob ein Geschlechtsverkehr zwischen Ihnen und Ihrer Ehefrau möglich gewesen wäre, bitten wir sie um Einreichung eines entsprechenden Arztzeugnisses bzw. Arztberichts.» Wahrlich ein grotesker persönlichkeitsverletzender Übergriff!

«Rein freundschaftliche Kontakte ungenügend»

Bei Fragen rund um Liebe und Ehe bewegen sich die Behörden in dünner Luft, fischen aber unentwegt im Trüben und entscheiden auf der Basis diffuser und kaum reflektierter Vorverständnisse. Für Ehen mit migrationsrechtlichen Wirkungen gesteht die Rechtsprechung Paaren, die von Gesetzes wegen zum Zusammenwohnen verpflichtet sind, keine längere Auszeit von der häuslichen Enge zu: «Das System des Ausländerrechts ist […] nicht darauf angelegt, dass ausländische Eheleute längere Zeit voneinander getrennt in der Schweiz leben können, um sich über ihre Beziehung klar zu werden; insbesondere ist insoweit kein wichtiger Grund im Sinne von Art. 49 AuG gegeben», heisst es in der Erwägung eines bundesgerichtlichen Urteils vom 1. Juni 2010. Keinerlei Verständnis für krisenbedingt getrennte Haushalte gilt in solchen Konstellationen dann, wenn sich Eheleute schon vor der Eheschliessung gekannt haben. Nach der lapidaren Auffassung des Bundesgerichts hatten sie dann nämlich «genügend Gelegenheit, sich ein Bild über ihre gemeinsame Zukunft zu machen». Und schliesslich stellte das Bundesgericht klar, dass «bei getrennt wohnenden Ehegatten rein freundschaftliche Kontakte, auch zwei oder drei Mal die Woche, für die Annahme einer gelebten Ehegemeinschaft nicht genügen». Diese Feststellung evoziert die Frage, wie sich denn – bei Fehlen einer Haushaltsgemeinschaft – eheliche Kontakte von (rein) freundschaftlichen Kontakten unterscheiden liessen. Der Varietät ehelicher Beziehungen steht nämlich eine nicht minder grosse Vielfalt freundschaftlicher Beziehungen gegenüber, wobei diese mit ehelichen Beziehungen eine beachtliche Schnittmenge bilden. Selbst wenn wir Freundschaft als «Liebe ohne Sex» definieren, wird sie dadurch inhaltlich von der Ehe nicht unterschieden. Vielmehr können beide Beziehungsformen hinsichtlich Beziehungsintensität und Bindungsqualität deckungsgleich sein. Angesichts dieses Befundes sind die behördlichen Definitionsversuche der «echten» Ehe mehr als fragwürdig.

Primat des Familienlebens vs. nationalstaatliche Einwanderungspolitik

Allen Widerständen gegen die Ehe als Institution zum Trotz münden mobilitätsbedingte Begegnungen mit «Fremdländischen» mit seit Jahren anhaltender und tendenziell wachsender Häufigkeit in den Hafen der Ehe. Das Internet als neuzeitlicher Begegnungsraum alimentiert entsprechende Paarungsbereitschaften. Normalfamilien verwandeln sich zunehmend in Weltfamilien. Die Familienmigration als bedeutsamer Immigrationsweg erscheint gleichwohl mitunter diffus und unausgesprochen als Verstoss gegen das «nationale Monogamiegebot» (Beck/Beck-Gernsheim), weckt Ängste vor einer vorgeblichen Majorisierung durch Menschen «fremder» Religionen oder Kulturen und wird partiell angefeindet. Dem prekären Spannungsverhältnis, das der grenzüberschreitenden Liaison von Menschen verschiedener Staatsangehörigkeit, Religion und Kultur innewohnt und das Risiko eines Scheiterns erhöht, steht ein Spannungsdreieck zwischen Bern, Lausanne und Strassburg gegenüber. In diesen Brennpunkten geniessen Ehen und Familien im Migrationskontext eine unterschiedliche Wertschätzung. Während sich in Bern die Stimmen mehren, die mit Blick auf die Familienmigration bedrohliche Einwanderungsfluten beschwören und Dämme errichten wollen, akzentuiert Strassburg zunehmend das Primat des Familienlebens vor nationalstaatlicher Einwanderungspolitik. Und zwischen Strassburg und Bern versucht Lausanne einen mehr oder weniger überzeugenden «Ausgleich» zu finden. Die Heiratslust mag im Rückgang befindlich sein, für grenzüberschreitende Bindungen bleibt die Ehe und Familienbildung ein mehrwertträchtiger Zielpunkt, der als Faktum normbildende Kraft entfaltet. Der EGMR kommt daher basierend auf Art. 8 EMRK als Garant und Fortbildner der Menschenrechte nicht umhin, solchen Verbindungen wider nationalstaatliche Souveränitätsansprüche Schutz zu gewähren. Er tut dies in zunehmendem Masse, sehr zum Missfallen anachronistischer Souveränitätsdogmatiker. Weltfamilien werden die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK und damit indirekt auch unsere Rechtsprechung indes weiter dynamisieren.

Literatur

Beck, Ulrich, Elisabeth Beck-Gernsheim, 2011, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp.
De Montaigne, Michel, 2012, Von der Kunst, das Leben zu lieben. Herausgegeben von Hans Stilett, Deutscher Taschenbuch Verlag, 5. Aufl., München.
Epinay, Astrid, 2013, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht aus der Sicht des Bundesgerichts. In: Jusletter 18. März 2013.
Hangartner, Yvo, 2013, Bundesgerichtlicher Positionsbezug zum Verhältnis von Bundesverfassung und Völkerrecht. Bemerkungen aus Anlass der Bundesgerichtsurteile vom 12. Oktober 2012. In: AJP 2013, 698ff.
Hugi Yar, Thomas, 2013, Von Trennungen, Härtefällen und Delikten. Ausländerrechtliches rund um die Ehe- und Familiengemeinschaft. In: Alberto Achermann et al., Jahrbuch für Migrationsrecht 2013, Bern, 33ff.
Schmid, Wilhelm, 2013, Dem Leben einen Sinn geben. Berlin.
Spescha, Marc, 2012, Kein Eheverbot für Sans-Papiers oder abgewiesene Asylsuchende. In: dRSK, publiziert am 3. Februar 2012.
Spescha, Marc, 2013, Zwischen Hoffen und Bangen: Ehen und Familien in grenzüberschreitenden Spannungsverhältnissen. In: Rumo-Jungo, Alexandra, Christiana Fountoulakis, Familien in Zeiten grenzüberschreitender Beziehungen. Familien- und migrationsrechtliche Aspekte. Zürich, 85ff.
Spescha, Marc, Hanspeter Thür, Andreas Zünd, Peter Bolzli, 2012, Kommentar Migrationsrecht. 3. Aufl., Zürich.
Uebersax, Peter, 2013, Von Kreisen und Menschen – zum Migrationsrecht. In: ZBJV 2013, 557ff.
Zünd, Andreas, Thomas Hugi Yar, 2013, Aufenthaltsbeendende Massnahmen im schweizerischen Ausländerrecht, insbesondere unter dem Aspekt des Privat- und Familienlebens. In: EuGRZ 2013, 1–19.

Der Autor

Marc Spescha ist promovierter Jurist und Rechtsanwalt in Zürich und arbeitet als Lehrbeauftragter für Migrationsrecht an der Universität Freiburg i.Ue.

Quellenangabe

Dieser Artikel wurde erstmals in der Zeitschrift terra cognita (Nr. 24, Frühling 2014) veröffentlicht.

Résumé

Les couples et les familles dans des rapports de tension transfrontaliers

La mondialisation a également englobé le marché matrimonial. Vu les migrations transfrontalières, le mariage connaît un attrait accru, et ce en dépit des crises qu’il pourrait engendrer à cause des effets juridiques existant en matière de migration. Les personnes ont certes de nombreux motifs pour contracter un mariage, mais les conséquences quant au droit en matière de migration sont souvent pour les immigrés la cause d’un échec précoce à leur union. Voilà pourquoi on parle de rapports de tension transfrontaliers lorsqu’on évoque les mariages binationaux et les mariages entre étrangers dont l’un des conjoints appartient au regroupement familial. Aujourd’hui, il s’avère que de telles situations n’ont rien d’extraordinaire et sont pour ainsi dire « normales ». Souvent, on les suspecte malgré tout, et les personnes concernées connaissent des limitations dans la liberté d’agir dans leur vie conjugale et familiale. Des exemples de cas concrets montrent que ces personnes sont sur le fil du rasoir entre les exigences posées pour leur entrée et les intrusions lésant la protection de la personnalité. Au nom de la lutte contre les abus, les autorités compétentes en matière de migration et les tribunaux jugent malgré tout de la qualité des unions et décident surtout sur ce critère s’il convient de prolonger ou non le séjour du conjoint ayant bénéficié du regroupement familial. Une durée de mariage en Suisse de trois ans au moins est le critère majeur (objectif) pour avoir une perspective de continuer à pouvoir séjourner dans notre pays. En outre, le couple doit faire ménage commun. Le droit en matière de migration aiguise parfois l’imagination des gens et les sensibilise pour développer des stratégies pratiques. Parmi ces stratégies, l’une consiste à invoquer le droit international et en particulier la jurisprudence dynamique de la Cour européenne des Droits de l’Homme en matière de vie privée et de vie de famille. Cette jurisprudence montre que les droits de l’homme ne doivent pas être de vaines promesses, mais qu’ils doivent, au contraire, de plus en plus agir comme revendication de la souveraineté dans des relations transfrontalières au détriment de la politique d’immigration.

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