LeserInnen fragen Peter Schneider auf TA-online

alte häsin
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LeserInnen fragen Peter Schneider auf TA-online

Ungelesener Beitrag von alte häsin »

die alte häsin empfiehlt vivement, die am "Kultur"begriff herumstudieren und diesen nicht einfach deR binationalen PartnerIN überstülpen möchten:

www. tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Identitaet-und-solche-Sachen/story/17377769?dossier_id=527

Identität und solche Sachen
Von Peter Schneider. Aktualisiert am 23.10.2013
Warum man Probleme mit dem Begriff der Identität und seiner Kombination mit Begriffen wie Nation, Heimat und Heimatgefühl haben kann.
* Leser fragen

"Wie hängen Heimat und Identität für Sie zusammen? " S. E.

Liebe Frau E.
Unter Identität stellt man sich meistens den Effekt eines Prägestempels vor, der in früher Kindheit auf einen niedersaust: Man wird in den Bergen geboren, und lebenslänglich stimmt einen der Klang des Alphorns wehmütig. So ist es aber nicht. Identität ist a) nichts Einheitliches und b) etwas Imaginäres. Ich wurde in einer deutschen Kleinstadt am westfälischen Rande des Ruhrgebiets geboren, links die Zeche, rechts die Kühe. Aufgewachsen bin ich in einem ländlich-katholischen Arbeitermilieu. Was ergibt das für eine Identität? In meinem Fall sorgte das dafür, dass ich schon ziemlich früh von der Grossstadt träumte und mir einredete, das nahe Gelsenkirchen sei immerhin so etwas wie Berlin im Kleinformat.

Da ich der Erste der Familie war, der aufs Gymnasium ging, bezog ich die Informationen über diesen Schultypus von meiner Grossmutter (aus Gelsenkirchen!), die mir erzählte, wie in ihrer Jugend die Gymnasiasten mit bunten Mützen durch die Stadt zogen . . . Sie meinte als treue Monarchistin vor allem die Zeit des Kaiserreichs; und Sie können sich vorstellen, wie enttäuscht ich als 10-Jähriger war, dass die neue Schule nichts mit der «Feuerzangenbowle» gemein hatte. Mein Grossvater wiederum, der sich wegen der schweren Krankheit meiner Mutter viel um mich kümmerte, war im Ersten Weltkrieg zur See gefahren, hatte im Laien-Opernhaus-Chor (Gelsenkirchen!) gesungen, war SchalkeFan und gab Geigenunterricht. Mit meinem Vater habe ich meine ersten Ferienjobs auf der Zeche verbracht. Gleichzeitig schrieb ich Theaterkritiken für die Regionalzeitung und las ausser Freud Enid Blyton und Theodor Storm.

Vielleicht können Sie sich nun vorstellen, warum ich (geradezu identitätsbildende) Probleme mit dem Begriff der Identität und seiner Kombination mit Begriffen wie Nation, Heimat und Heimatgefühl habe? Wer sich in Zürich über den «Diskurs in der Enge» beklagt, hat nie in Dorsten (NRW) gelebt. Ziemlich früh nämlich habe ich mich in meiner Heimat nicht heimisch gefühlt. Was mich interessierte, war meiner Umgebung oft ein Buch mit sieben Siegeln. Meine Heimatgefühle sind nicht real-lokal verwurzelt, sondern pure Bricolage: Wenn ich am Meer grosse Schiffe sehe, überkommt mich seemännisches Fernweh. Zugleich ist mir das Bergarbeiter- und Gewerkschaftsmilieu weiterhin sehr nahe, allerdings ist diese Nähe geografisch sehr weit gefasst. In unseren vorletzten Ferien musste ich unbedingt einen Abstecher nach Harlan-County, Kentucky, machen, englische Bergarbeiterfilme rühren mich zutiefst, und der Dialekt der Gelsenkirchener Kumpel geht mir flüssig von der Zunge. Ich kann aber auch Berlinern und lese die Lokalteile der «Berliner Morgenpost», der TAZ und des «Tagesspiegels». Wenn mein Vater in Zürich ist und über das Gedränge am Hauptbahnhof staunt, dann denke ich nicht «Dichtestress», sondern bin stolz auf das Puff in the little big city. (Ui, wie peinlich.)

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
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